Zürich ist in den Sommerferien einfach hinreissend. In diesen paar Wochen, wenn die Patina von Stress, Termindruck und Pendenzen bei allen weggespachtelt ist, und das Wetter so strahlt, präsentiert sich die Stadt wie ein riesiger Instagram-Feed: Alle sind gut drauf, keine Staus, Platz im ÖV, überall Parkplätze, entspanntes Personal in Büros, Beizen und Läden, niemand hat Stress. Im Lettenbadi-Café hat es für mich sogar einen freien Tisch am Nachmittag – die Welt ist schön.
Auch keine Bullenhaie?
Ein guter Moment, nachzusehen, ob auch meine Mitmenschen so gut drauf sind. Da sind zum Beispiel die zwei Jungs, die sich in der Bestell-Schlange fragen, ob sie noch ein Bier vertragen – das klassische Shakes-Bier Dilemma: «Sein, oder Dichtsein». Unten der Typ, der auf dem Tüechli sitzend in sein Smartfon starrt und sich dabei gedankenverloren am Knöchel kratzt. Vielleicht sollte ihm jemand sagen, dass diese Beton-artige Kruste, die sich um die Ferse zieht, waschbar ist. Dann fallen meine Augen auf zwei fröhlich tratschende Schwimmerinnen, die im gottgefälligen Ganzkörper-Badekleid limmatabwärts treiben. Es gibt immer was zu sehen: Die Influencerin mit der Ringlampe am anderen Flussufer. Teenager, die einer Badehose nachschwimmen. Die Szene bleibt jugendfrei: Der Verlierer hatte drunter noch Boxershorts an. Am Nebentisch entbrannte die Diskussion, was unterhaltsamer wäre: Krokodile oder Haie in der Limmat. Nachdem gegoogelt wurde, dass es offenbar Süsswasser-Bullenhaie gibt – «höhö, Bullen haben wir genug, nur die Haie fehlen noch» – haben die Haie gewonnen. Dabei hiess doch der städtische Design-Güselchübel «Züri-Hai». Wiedemauchsei, Sommerferien in Zürich sind ein Riesenspass – wenn man es sich leisten kann.
Zeit für eine Zwischenbilanz: Ich habe die Übersicht verloren, in der wievielten Welle wir uns befinden, bin aber mächtig froh, dass die Pandemie 2020 gekommen ist und nicht 2003. Ich will mir nicht vorstellen, Tage und Wochen zuhause zu bleiben mit einem Nokia 3310 (hatte als einziges Spiel «Snake» drauf), dem meist schrottigen Fernsehprogramm ausgeliefert, einigen VHS-Kassetten im Gestell und einer ISDN-Verbindung. Wie konnte man eigentlich überhaupt aufs Klo ohne Smartphone?
Der Lockdown 2020 war zwar lästig, hat aber mir und vielleicht auch Anderen aufgezeigt, dass es nicht an der mangelnden Zeit liegt, dass man seine immer wieder aufgeschobenen Projekte nicht mal ansatzweise umsetzt. Diese Illusion ist definitiv gestorben. Ähnlich die Illusion mit der Fitness. Habe ich die gesparte Zeit, die ich nicht im Tram oder Bus verbracht habe, für körperliche Ertüchtigung verwendet? Natürlich nicht. Dabei habe ich mir echt überlegt, mit Fechten zu beginnen. Fechten ist der perfekte Corona-Sport: Masken, Handschuhe und du stichst jeden ab, der sich auf 1 Meter 50 nähert. Hab’s aber gelassen. Trotzdem bin ich wie jeder Kerl überzeugt, dass wenn ich es nur wollte, dass ich mir den Body eines griechischen Halbgotts antrainieren könnte. Hollywood-Schauspieler können das ja auch. Ich bräuchte nur drei Monate, einen Fitness-Coach, eine Ernährungsberaterin und keinen freien Zugang mehr zum Kühlschrank plus eine Motivation wie die Titelrolle im nächsten Batman-Film. Keine Ahnung, warum die mir nicht die Bude einrennen mit Superhelden-Rollenangeboten.
Wiedemauchsei – am 17. November sind wir im dritten Jahr der Pandemie. Ja, die zwei Wochen, die es zum Abflachen der Kurve brauchte, sind schon bald vorbei. Was haben wir Neues? Eine Dating-Plattform für Impfskeptiker. Coole Sache, denken sich Geizhälse … Entschuldigung, Sparfüchse: Dort rechnet es sich, einen neuen Schatz zu suchen, weil billiger kommt man nicht davon: Keine teuren Restaurants, keine Fitness-Clubs, keine Partys, keine Flugreisen – voll Low Budget. Mich braucht das aber nicht zu kümmern. Immerhin habe ich mich impfen lassen. Die Nebenwirkungen sind aber heftig: Ich werde keinen vorzeitigen Covid-Abgang machen, sondern bis zur Pensionierung arbeiten und womöglich noch älter werden. Das hätte ich mir früher überlegen sollen.
Neulich habe ich Besuch vom Flughafen abgeholt. Da taucht man in eine andere Welt ein, in der andere Regeln gelten. Es gibt zum Beispiel keinen Dress-Code: Du kannst am Flughafen um 06:30 Uhr biertrinkend in Jogginghosen rumhängen, ohne dass irgendjemand auch nur die Nase rümpft. In der Transit-Zone laufen Leute rum, die sehen aus, als kämen sie direkt von einer Pyjama-Party oder wären vor zwei Minuten aus dem Bett gestiegen: Schlabbershirt, Turnhose, Flipflops, zerknautschte Frisur und schon fast sichtbarer Mundgeruch. Im Idealfall stammt der Mundstuhl von einem Fischbrötchen, das am Flughafen schnell mal ein kleines Vermögen kostet. Sogar auf der abgelegensten SAC-Hütte würde man sich für die Preisgestaltung schämen. Nicht so am Flughafen: Hey, das Zeug ist zoll- und steuerfrei und kostet trotzdem das Doppelte wie an der Bahnhofstrasse? Vielleicht ist es eine Art Export-Gebühr: Immerhin wird das Zeug, was die verkaufen, flugs verdaut und füllt danach Kanalisationen rund um den Globus. So genau will ich das aber nicht wissen und kaufe mir ein Fläschchen stilles Wasser zu einem Preis, den man eigentlich für einen Harass inklusive Heimlieferung zahlt.
Flughäfen sind kein Ort des Frohsinns, ausser vielleicht in der Empfangshalle, wo hierzulande Kuhglocken offenbar noch einen hohen Stellenwert haben. Der Tiefpunkt wird erreicht beim Sicherheits-Check: Der Ort, wo alle die Schuhe ausziehen müssen und es riecht wie im Fondue-Stübli. Da spielen sich Dramen ab mit verknoteten Schuhbändeln, oder wenn der Metalldetektor pfeift, sind einzelne Passagiere schon nahe am Nervenzusammenbruch und Vielflieger nerven sich über Pauschaltouristen. Auch die spontan aufflammenden Bürgerproteste «Wieso muss ich meine Schuhe ausziehen?», tragen nicht zur guten Laune bei.
Aber der Flughafen ist kein Ort für repräsentative Verhaltensstudien. Es gibt zum Beispiel keinen Grund für ein Gedränge, sobald das Boarding beginnt. Trotzdem verhalten sich die Passagiere so, als sei es der letzte Helikopter in Saigon. Lustig wird er erst, wenn man das Flugzeug betritt und einem die Flugbegleitung zeigt, in welcher Richtung der Sitz ist. Ich bin dann immer überrascht, wenn ich nach hinten soll und nicht ins Cockpit. Ein weiterer Quell der Freude ist die Sicherheitsdemonstration, wo sie einem erklären, wie der Gurt funktioniert. Schwarze Magie. Ohne Anleitung hätte ich den Gurt vor dem Bauch verknotet. Mein Lieblingsteil kommt aber mit der Demonstration der Schwimmweste: Dieser angewiderte Blick der Flugbegleiterin, wenn sie die versiffte, tausendmal gebrauchte Weste hochhält, um sie dann mit angehaltenem Atem milimeterknapp am perfekten Make-Up vorbei streift und danach mit unterdrückter Abscheu Verschluss, Trillerpfeife und das Aufblas-Röhrchen demonstriert, das allein ist schon den Ticketpreis wert. Schade, dass die Safety-Demo heute meist mit einem Video abgefeiert wird.
Über die Bordverpflegung wurden schon Bücher geschrieben. Meine Erfahrungen kann man so zusammenfassen: Wenn die beiden Optionen A) duftende Pasta mit Tomatensauce und frischem Basilikum, oder B) kaltes Schafhirn mit verkohltem Fenchel sind, dann rauschen die Flugbegleitenden mit den Servier-Wagen an meiner Reihe vorbei, bis sie am anderen Ende des Flugzeugs mit Verteilen anfangen. Wenn sie dann nach gefühlten drei Flugstunden bei mir sind, ist eine Option gerade nicht mehr verfügbar. Raten sie mal welche … Jepp!
Aber irgendwann landet die Maschine – je nach Destination mit oder ohne Applaus – und bevor sie ausgerollt ist, stehen schon alle im Mittelgang mit ihrem Handgepäck und wollen nichts wie raus. Wozu? Damit sie länger am Gepäckkarussell warten können? Tröstlich finde ich nur den Gedanken, dass an jedem dieser Bänder der Wunsch einer Person in Erfüllung geht, dass ihr Koffer der erste sein möge, der durch den Gummilappenvorhang bricht. Aber auch das Gepäckkarussell ist nicht ohne Makel: Du wurdest zigmal geprüft, geröntgt, befragt und abgetastet, aber am Karussell kannst du jeden Koffer nehmen, der dir gefällt. Flughäfen sind komische Orte.
(Für meine Leser*innen aus Hessen: «Hömma!») Mein Opa hatte in den Sixties ein Hörgerät. Ein kleines Gerät in der Brusttasche mit einem gezwirbelten Kabel ins Ohr. Mir hat das Teil furchtbar imponiert. Für mich sah er aus wie ein Secret Service Agent. Mein Opa, der Bodyguard des Präsidenten. Heute würde er nicht mehr auffallen bei all den Bluetooth-Ohrknöpfen, die sich mit ihren Menschen durch die Fussgängerzonen schleppen. Seine eingeschränkte Hörfähigkeit nannten wir «selektive Taubheit»: Wenn ein Auto beim Vorbeifahren eine Fehlzündung hatte und die ganze Familie zusammenzuckte und sich die Ohren zuhielt, drehte er nicht mal den Kopf. Aber wenn wir was Heimliches machten, hörte er Sachen, die nicht einmal ein Wolf hören könnte. Er sagte dann immer mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht: «Das hab’ ich überhört.» Sein Opa-Radar hatte mikroelektronische Verstärkung.
Gebogene Stöcke waren mal im Schwange. Man hatte in jeder Hand einen.
Später hat er sich ein diskreteres, hautfarbenes Teil zugelegt, das er sich hinter das Ohr klemmen konnte. Jepp, genau so ein Gerät, das beim Gesichtsmaske abstreifen bis zu acht Meter weit fliegt, bevor es sich beim Aufprall in Gerät, Batteriedeckel und Batterie zerlegt. Ich halte das für eine coole Masche, um hilfsbereite Menschen kennenzulernen. Wiedemauchsei, Opa hielt Schritt mit der Technik und schaffte sich ein Im-Ohr-Hörgerät an. Er hält es für die beste Investition seit dem elektrischen Rasierapparat. Wir haben gewitzelt, dass er es vor dem Zubettgehen mit dem Korkenzieher aus den Ohren pulen müsse. Er hat jeweils gekontert, dass er den besten Schlaf hätte, weil er den Soundtrack der Welt einfach auf null setzen konnte. Ich hätte gerne so ein 007-Teil mit einer coolen App. Hörgeräte-Entwickler aufgepasst! Mit dem von Q designten Teil könnte ich im Strassencafe sitzen und mit dem Handy auf Leute Zielen und deren Gespräche in glasklarer Qualität mithören. Sogar auf der anderen Seite der Piazza. Was mit Kameras möglich ist, sollte auch mit Mikrofonen möglich sein. Die Technologie existiert, aber wie das mit dem Mithören halt so ist: Das gehört sich nicht.
Ich bin in einem Alter, in dem niemand mehr was tun muss, um mich zum Stöhnen zu bringen. Ich werde langsam, aber sicher ein grauer, alter Sack. Als 57-Jähriger bin ich schon fast so etwas wie ein Langzeitüberlebender. Auf mich warten nur noch Krankheit und erektile Dysfunktion, Krampfadern, Schlupflider und Hodenstillstand. Natürlich könnte ich den Verfall hinauszögern durch Ernährungsumstellung und Fitness-Studio, aber was habe ich davon? Den Körper eines Yoga-Instruktors und den Kopf eines Komodo-Warans? Nö, nö, es ist okay so, wie es ist. Das heisst aber nicht, dass ich mich gehen lasse. Ich gehe auch zum Arzt für den Checkup. Zum selben Arzt übrigens, der mich vor knapp drei Jahren untersucht und mir drei Wochen später die Operation am offenen Herzen beschert hat. Ich also hin und er meint, dass ich überfällig sei für eine Darmspiegelung. Danke. Immer wieder eine Freude in seiner Praxis. Unter Boomern nennt man die Koloskopie auch «Grosse Hafenrundfahrt». Der Ausdruck ist übrigens das einzige Lustige, das man der Angelegenheit abgewinnen kann. Ich kenne Leute, die würden lieber einen Sandstrand komplett staubsaugen, als sich einen 1,2 Meter langen Kameraschlauch in den Anus schieben zu lassen.
Jackson Pollock, Number 8 (1949), Neuberger Museum of Art, Purchase NY
Wiedemauchsei – für die Vorbereitung habe ich eine fette Box mit Pulvertüten aus der Apotheke erhalten. Der Eingriff ist an einem Nachmittag; am Morgen davor soll ich im Abstand von Stunden zwei Beutel Pulver in kaltem Wasser auflösen und trinken. Easy. Am Tag X schütte ich um sechs Uhr morgens einen Beutel Stuhlweichmacher mit Mango-Geschmack ins Halbliterglas. Das Zeug hat die Konsistenz von Fischkleister und einen üblen Synthetik-Fruchtgeschmack. Jede anständige Mango würde sich in den Boden schämen, mit so einem Aroma in Verbindung gebracht zu werden. Auch nach der vierten Mundspülung hatte ich so ein kristallines Knacken zwischen den Zähnen. Als Erfrischungsgetränk ist das Zeug nicht zu vermarkten.
Zwei Stunden später der zweite und letzte Beutel, das Abführmittel. Hier hat sich der Hersteller nicht mal mehr die Mühe gemacht, ein Fruchtaroma beizugeben. Das Zeug trinkt sich so zähflüssig wie ein Beutelfondue aus dem Kühlschrank. Der Brechreiz ist überwältigend, aber irgendwann sind die fünf Deziliter im Magen. Dort bleiben sie nicht lange und entfalten ihre Wirkung. Mein Gedärm gibt Geräusche von sich, die sonst nur Anwohner von aktiven Vulkanen zu hören bekommen. Ich erspare ihnen die Schilderung des weiteren Vormittags, nur so viel: Ich habe einen fäkalen Jackson Pollock in die Keramik gedonnert. Nicht nur einen. Immer wieder Neue. Irgendwann geht einem der Feststoff aus und man fühlt sich wie von einem Vampir ausgesogen.
Für die Busfahrt zum Spezialisten habe ich mir eine Damenbinde in die Unterwäsche geklebt. Calvin Klein meets Always Ultra. Den Eingriff selber habe ich dank Propofol-Narkose selig träumend verschlafen und bin danach, anders als Michael Jackson, erfrischt aufgewacht. Nachdem er mich versichert hat, dass da nichts Auffälliges zu finden war (keine Goldbarren, keine Rolex oder dergleichen), fragte mich der Arzt, ob ich eine Kopie der Aufnahme haben möchte. Einen kurzen Moment liebäugelte ich mit der Idee eines Filmabends mit Freunden und Nachbarn, habs dann aber sein lassen.
Ich habs genau wie Sie langsam dicke mit diesem Virus. Ich vermisse Restaurants, Bars, Fussballspiele, Kino, Konzerte, Reisen, Theater, Partys … nein, liebe Jugend, eine Party ist in meinem Vokabular nicht ein Iwänt in einer nifty Lokeischen mit viel zu lauter Musik, wo man für einen Drink eine Hypothek aufnehmen muss, wenn man denn vorher der erniedrigenden Gesichtskontrolle eines missmutigen Türstehers standgehalten hat. Eine Party ist ein gemütliches Beisammensein von Freunden und Freunden von Freunden – sicher mehr als fünf Personen aus sicher mehr als zwei verschiedenen Haushalten – die die Alkoholvorräte der Gastgebenden nicht in die Hände reiben, sondern old-fashioned durch orale Zufuhr vernichten und sich dabei in mehr oder weniger quartierverträglicher Lautstärke gut unterhalten. Gesprächsthemen, die sich aufdrängen sind a) Leute, die die Behörden verständigten, als eine fünfköpfige Familie beim Nachbarn zu Besuch war, b) Trinkbarkeit von Handlotionen und c) Lokale, die es früher mal gab.
So wie ich es sehe, bleibt Corona wie die Grippe ein regelmässiger Wintergast. Es wird wie bei der Influenza jedes Jahr einen neuen angepassten Impfstoff geben (mit oder ohne Mikrochip von Bill Gates, Putin, Xi, den Rothschilds oder Anderen) und wir werden wohl lernen, damit zu leben, ohne jedes Mal die Welt anhalten zu müssen. Die Regierenden haben versucht das Volk mit mehr oder weniger sinnvollen Massnahmen zu schützen, wir danken für den guten Willen, aber jetzt sollten wir weitermachen, wo wir vor einem Jahr aufgehört haben. Was bleiben wird, sind Trauer um die Verstorbenen, Wehmut wegen des verlorenen Jahres, Dankbarkeit (aber nicht mehr Lohn) für die systemrelevanten Arbeitenden, irre Verschwörungstheorien, Home-Office, der Wichtigtuer-Ausdruck «Vakzin» für Impfstoff und modische Gesichtsmasken. Ich glaube an ein Leben vor dem Tod.
Wenn ich so zurückdenke – vor einem Jahr war mein grösstes Problem der leichte Anflug einer Herbstdepression. Damals, Ende 2019, siedelte man das Wort «Superspreader» noch in der Pornografie an. Aber dann kam 2020. In meiner vorgezogenen Bilanz figuriert das Jahr als mehr als unterwältigend; es war bodenlos schlecht.
Der Wille zählt. Es hätte ja auch eine Gurkenmaske sein können.
Ich habe dieses Jahr mehr Alkohol mit den Händen konsumiert, als runtergeschluckt. Überhaupt: Die verschiedenen Handlotionen sind voll der Grusel. Die Flaschen vor dem Laden sind unappetitlicher als der Türgriff beim Tankstellenklo. Wenn man sich nicht sofort die Hände desinfizieren könnte, würde man sowas nie anfassen. Das Zeug, das da aus den hochkontaminierten Flaschen rauskommt, überrascht einen immer wieder aufs Neue: Ich persönlich hoffe ja immer auf dieses nach Spital riechende, dünnflüssige Alkoholzeugs mit einem Hauch Äther, von dem man weiss, dass es einem das Hirn wegätzt, wenn man den Geruch zu tief inhaliert. Leider gibt es das nur noch selten. Meistens ist es ein stinkender Billigfusel, der einen sofort erblinden liesse, wenn man denn ein Schlückchen probierte. Noch übler ist das Gelee-Zeugs, das mit viel zu viel Glycerin aus deinen Händen zwei klebrige Paddel macht. Du möchtest es an deinen Kleidern abstreifen, weisst aber genau, dass sie danach aussehen wie die Bettlaken von einem rolligen Teenager. Also läufst du die nächste Viertelstunde mit abgespreizten Armen rum, als hättest Du den weissen Anzug an und deine Hände in Spaghettisauce getunkt.
Jugendliche habens ja besonders schwierig, was das Soziale betrifft: Keine Konzerte, keine Gruppentreffpunkte, wo sie wie die Welpen rumhängen – auf der positiven Seite war es durch die Maskenpflicht noch nie so einfach, eine Zahnspange zu tragen. Apropos Zähne – wenn dir vom Maske tragen schlecht wird, solltest du öfter die Zähne putzen. Ich glaube, Alkohol ist der Leim, der dieses Jahr noch einigermassen zusammenhält. Wenn ich König der Schweiz wäre, ich würde einen Winterschlaf verordnen: Drogen verteilen, alle drei Wochen aufwachen, lüften, was Kleines essen, weiterknacken, bis die Uhren auf Sommerzeit umgestellt werden. Danach ist keiner mehr krank und das Leben kehrt zurück.
Das Gröbste scheint ausgestanden zu sein. Jedenfalls sind wir schon so weit, dass das drängendste Problem der Gegenwart der kolonialistische Name einer Süssspeise ist. Ohne das Thema weiter zu vertiefen, spreche ich mich für den neuen Namen aus, den der Zürcher Künstler Max Grüter erdacht hat: Amorechopf. Tönt fast gleich, ist aber unendlich viel positiver konnotiert.
Rückblick auf die vergangenen drei Monate: Haben Sie auch ein paar Mal aus purer Gewohnheit jemandem die Hand geschüttelt und kaum hatten Sie die fremde Flosse in der Ihren, sank das Bewusstsein ein, dass Sie gerade das total Falsche tun? Dann noch ein paar unbeholfene Sätze gestammelt und gehofft, dass alle Beteiligten das Ganze so schnell als möglich vergessen? Japp, ist mir mehrmals passiert. Okay, die Alternative wäre dieser ungelenke Ellenbogengruss, mit dem man diejenigen Körperteile in Kontakt bringt, in die man vorschriftsgemäss reinrotzt und -hustet. Das ist irgendwie gleich schlau, als käme man der Maskenpflicht mit einer Gurkenmaske nach. So absurd das tönt, richtig absurd war mein Facebook-Feed, in dem Verschwörungstheoretiker tatsächlich Bill Gates hinter der Pandemie vermuteten, bloss weil der seit Windows 95 mit Viren zu tun hat. Eigentlich überraschend, dass niemand die Plexiglas-Industrie verdächtigt hat. Die und die Hersteller von Handlotion waren die einzigen, die so richtig von der Seuche profitiert haben. Ich bin gespannt, ob die Bademode-Hersteller rechtzeitig auf den Sommer den Trikini bringen mit der assortierten Gesichtsmaske zum Zweiteiler. (Analog der Bikini beim Mann.) Spezielles Feature: Wer beim Gang ins Wasser die Maske nicht abnimmt, macht eine interessante Waterboarding-Erfahrung. Da stopf ich mir das Maul lieber mit einem … Amorechopf.
(Veröffentlicht im Tagblatt der Stadt Zürich am 24.06.2020)
Als Kind habe ich mir vorgestellt, was wir im Jahr zweitausendundzwanzig alles haben werden: Haushaltroboter, fliegende Autos, Lernpillen, so Zeug halt. Und die bittere Realität: Wir lernen Händewaschen. Nicht gerade mondän, aber ich mache mit. Vom vielen Händewaschen ist meine Haut mittlerweile so rau, ich könnte die Gartenmöbel mit der blossen Hand abschmirgeln.
Pestarzt; auch Schnabeldoktor genannt. (ausgestorben)
Von allen Handwaschanleitungen, die kursieren, sind mir zwei geblieben: Wasch so lange, wie du «Happy Birthday» singst und «Wasch dir die Hände, als hättest du gerade Chilis geschnitten und wolltest dich jetzt selbst befriedigen.» Eindrücklich, aber nicht kindertauglich. Die lieben Kleinen machen ja gerade einiges mit: Erst müssen sie das Kinderzimmer für das Klopapierlager hergeben, dann werden sie auch noch von den eigenen Eltern geschult. Das hat auch wieder eine gute Seite: Viele Eltern haben in dieser Phase entdeckt, dass nicht der Lehrer das Problem ist. Wenn das noch lange dauert; wenn also die ganze Familie jeden Tag zuhause ist, sich jeder Wochentag wie ein Sonntag anfühlt, an dem man nirgendwohin gehen kann, frage ich mich ernsthaft, warum im Supermarkt das Klopapierregal leer ist und nicht die Gestelle mit dem Alkohol. Vermutlich liegt es daran, dass grosse Arschlöcher halt eben viel Klopapier brauchen. Leute: Klopapier wird nie eine Währung sein. Glaubt ihr, die Banken überlassen Hakle die Weltherrschaft?!??
Aber wenn einem nun tatsächlich das WC-Papier ausgeht, und man findet im Laden sogar welches, stellt sich ein völlig neues Gefühl ein: Klopapierkaufscham. Ein Wort, das wohl bald in den Duden aufgenommen wird, wenn in ein paar Monaten alles vorbei ist. Bis dahin geniessen wir die Annehmlichkeiten von Home Office: Kein Gedränge mehr im Tram, der Kaffee ist besser und man muss keinen « fründliche Grind» machen. Der Lerneffekt ist auch gross: Schon bei der zweiten Videokonferenz weiss man, dass man sich besser nicht mit dem Hello-Kitty-Pyjama vor die Webcam setzt. Überhaupt sind Zoom-Konferenzen grossartig: Du schaust deinem Gegenüber nicht in die Augen, sondern daran vorbei und checkst die Wohnung. Da eine Wohnwand, dort eine Wappenscheibe, auch mal volle Background-Action mit Kindern. Doch dann obsiegt der Anstand über die Neugier und du schaust dein Gegenüber an und nimmst zum ersten Mal die aus der Form geratene Frisur wahr. Das schmerzt, weil du weisst, dass mit dir das gleiche geschieht. Du checkst das Bild, das alle von Dir mit der filzigen Frisur in deiner Bauernstube sehen und bedauerst, dass dein Rechner nicht genug Leistung hat, wenigstens den virtuellen Palmenstrand als Hintergrund einzublenden und nimmst dir vor: morgen wird der PC upgegradet.
Ich werde wegen Covid-19 meine Essgewohnheiten nicht ändern.
Da sind wir also: Eingesperrt im eigenen Land und wandern durch leere Supermärkte. Ein Gefühl, dass man früher nur in der DDR kannte. Unser Land hat zum Glück genug in der Kasse, um niemanden verarmen zu lassen. So erscheint es heute fast lächerlich, dass wir vor kurzem noch diskutiert haben, ob die Schweizer Wirtschaft einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub verträgt. Überhaupt hat sich einiges geändert: Couch Potatos sind keine faulen Säcke mehr, sondern verantwortungsvolle Lebensretter. Den Ausdruck «virale Videos» verwendet keiner mehr, und vielleicht nutzen wir Corona auch dazu, endlich aufzuarbeiten, was in der Schweiz fehlt:
Spitalpersonal besser bezahlen,
Homeoffice als Teil der Arbeitskultur einführen und
Die Mentalität, nicht krank zu arbeiten.
Zum Schluss noch eine Testfrage: Was kommt ursprünglich aus China, wurde nach Italien und von dort aus in die ganze Welt getragen? Hm? Richtig: Teigwaren.
Wenn alle Mobiltelefone bis 300 Meter wasserdicht und mit hubbleteleskopartigen Kameras ausgestattet sind, braucht es auch Apps, die den Menschen weiterbringen. Ich denke da an eine Premium-Schlaf-App, die ich von bulgarischen Billigkräften programmieren lasse und mit der ich in fünfzig bis hundert Jahren Milliardär werde. (Ja, ich werde weit über hundert Jahre alt.) Die Technologie ist zwar noch nicht so weit, aber die Idee ist geboren. Back to Business: In der Gratisversion kann die Nutzerin / der Nutzer auf die Minute genau einstellen, zu welcher Zeit der Einschlafmoment erfolgen soll und wann man wieder voll erholt aufzuwachen wünscht. Die nötige Mindestschlafzeit berechnet die App in den ersten Tagen. Die dem Gehörgang angepassten Im-Ohr-Kopfhörer sind nicht nur Hirnstromwellen-Empfänger, sie können diese auch beeinflussen. Ausserdem können sie Lärmquellen durch Gegenschall verstummen lassen, so dass das gepflegte Nickerchen auf dem Pannenstreifen oder der Schönheitsschlaf auf der Baustelle kein Problem mehr darstellen. Sie werden nach jedem Super Nap™ total erholt sein und keine Ahnung haben, dass während sie in Morpheus Armen lagen, nebenan ein Haus abgerissen wurde, über ihnen die Flugwaffe Überschallknalle produziert, oder das Nachbarbaby die Nacht durchgeschrien hat.
Im Basic-Paket sind weiter enthalten:
Schnarchen Ein/Aus
Flatulenzunterdrückung Ein/Aus
Träumen Ein/Aus
Körpertemperatur stufenlos regulierbar zwischen 35,7 bis 37,5 °C
Natürlich übernimmt der Hersteller für das hundertprozentige Funktionieren keine Garantie oder irgendwelche Haftung. Das steht auch so in den 76 Seiten der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Sie wie immer vorbehaltlos mit einem Fingertipp akzeptiert haben. Ausserdem fragen Sie sich zu Recht, wie ich denn damit steinreich werden soll. Nun, in der Basic-Version werden durch die App von ausgewählten Werbetreibenden Kaufanreize in das Unterbewusstsein gepflanzt. Wer keine Werbung will, kann sich für läppische zehn Franken im Monat die Premium-Dienste freischalten mit Features wie «volle Erholung in kürzerer Zeit», «Gewicht verlieren», «wilde Träume», «Fliegen », «Fremdsprachen lernen» und «Muskeltraining».
Durch die dynamische Schlafplanung können Introvertierte zu Party-Animals werden, Verlierertypen die Weltherrschaft erlangen und Unsportliche Weltrekorde brechen. Die App leitet aber jeden dieser Träume auf eine einfühlsame Art aus, die einem versichert, dass es gut ist, dass man so ist, wie man in Wirklichkeit ist und nur um seiner selbst geliebt wird. Heroin, Kokain und andere sinnes- und wahrnehmungsverändernde Substanzen werden überflüssig. Super Nap™ ruiniert so ganz nebenbei sämtliche Drogenkartelle der Welt. Die USA oder ein anderer Drittweltstaat wird meine Firma aus Dankbarkeit von Steuern befreien, worauf ich den Steuersitz dahin verlege. Aber zurück zum Produkt:
Im Social-Teil der App kann man sich mit anderen Premium-Usern zum gemeinsamen Träumen zusammenschliessen, um miteinander unvergessliche Abenteuer zu erleben. Riverraften auf einem urzeitlichen Fluss zwischen Dinosauriern? Ein Beatles-Konzert in den 60ern? Auf dem Dreimaster einen neuen Kontinent entdecken? Wandern auf fremden Planeten? Alles möglich. Träume können auch aufgezeichnet und geteilt werden auf meiner Plattform Dreamtube für läppische 9.95 Fr/Monat. Sittenwidrige Träume oder solche, in denen körperliche und seelische Verletzungen vorkommen, können weder aufgezeichnet noch hochgeladen werden. Nordkoreanische Hacker würden versuchen, das System zu überlisten und kläglich scheitern. Dreamtube würde auch eine jährliche Liste der am meisten in Träumen vorkommenden Menschen veröffentlichen. Unter Prominenten wäre «Dreamperson oft he Year» ein erstrebenswerter Titel. Der Preis für die Live-Übertragungsrechte der aufwändig inszenierten Verleihung wird in der Liga Papstwahl, Fussball-WM-Finale und Krönung im englischen Königshaus liegen.
Die Welt wird voll sein mit erholten, fitten, sprachgewandten Menschen. Irgendwann lasse ich mich pensionieren und übergebe mein Traumreich in fremde Hände. Wer weiss, was dann passiert? Machtmissbrauch, Wahlfälschung, Propaganda etc. wären Tür und Tor geöffnet. Ein Albtraum. Vielleicht sollte ich das Ganze nochmal überschlafen.
(Beim nochmaligen Durchlesen kommt mir mein Aufsatz vor wie eine Black-Mirror-Episode. Ich weiss noch nicht, ob das gut oder schlecht ist.)