Grosse Hafenrundfahrt

Ich bin in einem Alter, in dem niemand mehr was tun muss, um mich zum Stöhnen zu bringen. Ich werde langsam, aber sicher ein grauer, alter Sack. Als 57-Jähriger bin ich schon fast so etwas wie ein Langzeitüberlebender. Auf mich warten nur noch Krankheit und erektile Dysfunktion, Krampfadern, Schlupflider und Hodenstillstand. Natürlich könnte ich den Verfall hinauszögern durch Ernährungsumstellung und Fitness-Studio, aber was habe ich davon? Den Körper eines Yoga-Instruktors und den Kopf eines Komodo-Warans? Nö, nö, es ist okay so, wie es ist. Das heisst aber nicht, dass ich mich gehen lasse. Ich gehe auch zum Arzt für den Checkup. Zum selben Arzt übrigens, der mich vor knapp drei Jahren untersucht und mir drei Wochen später die Operation am offenen Herzen beschert hat. Ich also hin und er meint, dass ich überfällig sei für eine Darmspiegelung. Danke. Immer wieder eine Freude in seiner Praxis. Unter Boomern nennt man die Koloskopie auch «Grosse Hafenrundfahrt». Der Ausdruck ist übrigens das einzige Lustige, das man der Angelegenheit abgewinnen kann. Ich kenne Leute, die würden lieber einen Sandstrand komplett staubsaugen, als sich einen 1,2 Meter langen Kameraschlauch in den Anus schieben zu lassen.

Jackson Pollock, Number 8 (1949), Neuberger Museum of Art, Purchase NY

Wiedemauchsei – für die Vorbereitung habe ich eine fette Box mit Pulvertüten aus der Apotheke erhalten. Der Eingriff ist an einem Nachmittag; am Morgen davor soll ich im Abstand von Stunden zwei Beutel Pulver in kaltem Wasser auflösen und trinken. Easy. Am Tag X schütte ich um sechs Uhr morgens einen Beutel Stuhlweichmacher mit Mango-Geschmack ins Halbliterglas. Das Zeug hat die Konsistenz von Fischkleister und einen üblen Synthetik-Fruchtgeschmack. Jede anständige Mango würde sich in den Boden schämen, mit so einem Aroma in Verbindung gebracht zu werden. Auch nach der vierten Mundspülung hatte ich so ein kristallines Knacken zwischen den Zähnen. Als Erfrischungsgetränk ist das Zeug nicht zu vermarkten.

Zwei Stunden später der zweite und letzte Beutel, das Abführmittel. Hier hat sich der Hersteller nicht mal mehr die Mühe gemacht, ein Fruchtaroma beizugeben. Das Zeug trinkt sich so zähflüssig wie ein Beutelfondue aus dem Kühlschrank. Der Brechreiz ist überwältigend, aber irgendwann sind die fünf Deziliter im Magen. Dort bleiben sie nicht lange und entfalten ihre Wirkung. Mein Gedärm gibt Geräusche von sich, die sonst nur Anwohner von aktiven Vulkanen zu hören bekommen. Ich erspare ihnen die Schilderung des weiteren Vormittags, nur so viel: Ich habe einen fäkalen Jackson Pollock in die Keramik gedonnert. Nicht nur einen. Immer wieder Neue. Irgendwann geht einem der Feststoff aus und man fühlt sich wie von einem Vampir ausgesogen.

Für die Busfahrt zum Spezialisten habe ich mir eine Damenbinde in die Unterwäsche geklebt. Calvin Klein meets Always Ultra. Den Eingriff selber habe ich dank Propofol-Narkose selig träumend verschlafen und bin danach, anders als Michael Jackson, erfrischt aufgewacht. Nachdem er mich versichert hat, dass da nichts Auffälliges zu finden war (keine Goldbarren, keine Rolex oder dergleichen), fragte mich der Arzt, ob ich eine Kopie der Aufnahme haben möchte. Einen kurzen Moment liebäugelte ich mit der Idee eines Filmabends mit Freunden und Nachbarn, habs dann aber sein lassen.

Was Erbaulicheres: Wie ich mir meinen goldenen Herbst vorstelle

Das Leben danach

Ich habs genau wie Sie langsam dicke mit diesem Virus. Ich vermisse Restaurants, Bars, Fussballspiele, Kino, Konzerte, Reisen, Theater, Partys … nein, liebe Jugend, eine Party ist in meinem Vokabular nicht ein Iwänt in einer nifty Lokeischen mit viel zu lauter Musik, wo man für einen Drink eine Hypothek aufnehmen muss, wenn man denn vorher der erniedrigenden Gesichtskontrolle eines missmutigen Türstehers standgehalten hat. Eine Party ist ein gemütliches Beisammensein von Freunden und Freunden von Freunden – sicher mehr als fünf Personen aus sicher mehr als zwei verschiedenen Haushalten – die die Alkoholvorräte der Gastgebenden nicht in die Hände reiben, sondern old-fashioned durch orale Zufuhr vernichten und sich dabei in mehr oder weniger quartierverträglicher Lautstärke gut unterhalten. Gesprächsthemen, die sich aufdrängen sind a) Leute, die die Behörden verständigten, als eine fünfköpfige Familie beim Nachbarn zu Besuch war, b) Trinkbarkeit von Handlotionen und c) Lokale, die es früher mal gab.

Dieser Pablo malt in seiner Freizeit keine Bilder. – ©Netflix 2017 «Narcos»

So wie ich es sehe, bleibt Corona wie die Grippe ein regelmässiger Wintergast. Es wird wie bei der Influenza jedes Jahr einen neuen angepassten Impfstoff geben (mit oder ohne Mikrochip von Bill Gates, Putin, Xi, den Rothschilds oder Anderen) und wir werden wohl lernen, damit zu leben, ohne jedes Mal die Welt anhalten zu müssen. Die Regierenden haben versucht das Volk mit mehr oder weniger sinnvollen Massnahmen zu schützen, wir danken für den guten Willen, aber jetzt sollten wir weitermachen, wo wir vor einem Jahr aufgehört haben. Was bleiben wird, sind Trauer um die Verstorbenen, Wehmut wegen des verlorenen Jahres, Dankbarkeit (aber nicht mehr Lohn) für die systemrelevanten Arbeitenden, irre Verschwörungstheorien, Home-Office, der Wichtigtuer-Ausdruck «Vakzin» für Impfstoff und modische Gesichtsmasken. Ich glaube an ein Leben vor dem Tod.

(Tagblatt der Stadt Zürich, 03.02.2021)