Blindgänger

Neulich waren wir als Familie in der Blinden Kuh. Richtig: Das völlig verdunkelte Restaurant, in dem man von Sehbehinderten bewirtet wird. Schon die Polonaise im Schlepptau unserer Serviererin durch die Dunkelheit zum Tisch war ein Abenteuer. Ich hatte mich eben hingesetzt, da höre ich meine Tochter gegenüber sagen: «Ah, Dad, du sitzt neben mir», gefolgt von einem Patsch-Patsch. Ja, sie hat im Dunkeln ihrem Sitznachbarn die Schulter getätschelt. Ich habe mich zurückgehalten um nicht laut loszuprusten, als in der Finsternis eine belustigte Männerstimme mit süddeutschem Akzent sagte, «ich glaube, dein Papa sitzt woanders». Im Lokal wird viel gelacht. Ich hätte gerne ein Nachtsichtgerät gehabt, um zu sehen, wie die Leute in ihren Tellern rumfingern, um etwas zu finden, was sie aufgabeln können. Ob es wohl Gäste gibt, die den Wein vom Nachbarstisch austrinken? Lustig war, als mir meine Frau Gemahlin von ihrem Essen zu probieren anbot: Als ich den Kopf drehte, hatte ich die Gabel und einen Saucenfleck neben meiner Nase. Hat niemanden gestört. Eigentlich will ich gar nicht wissen, wie oft und auf welche Arten im Schutze der Dunkelheit gegen Sitte und Anstand verstossen wird. Vielleicht ist das Nachtsichtgerät gar keine so gute Idee.

Kolumne im Tagblatt der Stadt Zürich vom 28. Oktober 2015

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